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"Gefangen, ausharrend bis zum Tod" - Samuel gibt Einblicke in das schwerste Stadium von ME/CFS

„Ein Gefangener in einer mittelalterlichen Burg, in einen dunklen Kerker geworfen, ausharrend bis zu seinem Tod.“ - Samuel

Mein Name ist Samuel, ich bin 31 Jahre alt und seit Sommer 2020 an ME/CFS erkrankt. Im ersten Jahr war ich moderat betroffen und konnte das Haus noch verlassen, seit einem Jahr bin ich im sehr schweren Stadium und ein bettlägeriger Pflegefall, Bell 0. Mein Auslöser war vermutlich eine EBV Reaktivierung, physische Überlastung und viel Stress zu dieser Zeit.


Meine größte Herausforderung ist hauptsächlich, den Tag zu überstehen. Da ich durch die Einnahme von etwas Melatonin noch relativ gut schlafen kann, sind die Nächte einigermaßen aushaltbar. Ich kann das Bett nicht mehr verlassen, bin seit einem Jahr nicht mehr aufgestanden und kann nicht mehr sprechen, nur vereinzelt ein paar Worte leise flüstern.


Auch vertrage ich kaum Licht und wenig Geräusche, weshalb ich fast immer abgedunkelt und mit Ohropax daliege. Jegliche Art von Reizen ist zu viel für mich, dadurch ertrage ich auch kaum menschlichen Kontakt in meinem Zimmer. Freunde können deshalb seit einem Jahr gar nicht mehr vorbeikommen und meine Familienmitglieder dürfen sich immer nur kurz in meinem Zimmer aufhalten.


Morgens denke ich daran, wie viele Stunden noch vor mir liegen, bis wieder der Abend erreicht ist.


Versorgt werde ich momentan noch sehr gut von meinen Eltern und meiner Schwester, worüber ich sehr dankbar bin. Da ich nicht mehr aufstehen kann, wird jede Mahlzeit an mein Bett gebracht. Meistens muss diese auch speziell für mich angefertigt werden, da ich kein Zucker, Gluten und Milchprodukte mehr vertrage. Außerdem muss meine neben dem Bett stehende Chemietoilette immer wieder geleert und ich ab und zu gewaschen und bewegt werden. Das findet generell regelmäßig statt, außer ich bin zu schwach für die menschliche Nähe und zu sensibel für kleinste Bewegungen. Dann fallen solche Routinen auch mal aus oder werden eben verschoben.


Es ist ein wirklich ein langer und mühseliger, mit viel Widerstand bestückter Weg, bis man seine Rechte auf Erwerbsminderungsrente, Grad der Behinderung und auch Pflegegrad in angemessener Höhe erstritten hat. Bei mir ging die EU-Rente und der Pflegegrad noch recht gut durch, wobei mir bisher kein GdB gewährt worden ist, nicht mal 10% und das, obwohl ich am gesellschaftlichen Leben absolut nicht mehr teilnehmen kann.


Ohne meine Familie, die mich pflegt und versorgt und meine Ärztin, die mich zu Hause besucht, könnte ich wohl nicht überleben. Aufgrund der Reizsensibilität und Aversion sehr schwerer Fälle gegenüber fremden Menschen ist es auch nicht so einfach, einen Pfleger für entsprechende Aufgaben einzustellen.


Meine Familie, meine drei noch sehr jungen Neffen, Freunde, eine tolle Online-Community (ich wüsste nicht, wie ich das durchhalten sollte, wenn ich gar nicht mehr ans Handy gehen könnte), viele Menschen, die an mich glauben und beten und auf eine Besserung hoffen, geben mir Kraft und lassen mich durchhalten.


Außerdem die Hoffnung auf eine in Zukunft stärker finanzierte Forschung von ME/CFS, Medikamentenstudien, einen Durchbruch im Verständnis der Krankheitsentstehung und eine sehr kleine Hoffnung auf alleinige Besserung des Zustandes mit der Zeit.


Ich wünsche mir für die Zukunft mehr Forschung, um wieder minimal leben zu dürfen. Außerdem mehr Verständnis in Politik und Gesellschaft (auch für den immensen wirtschaftlichen Schaden, der keinesfalls diese sehr geringen Forschungsgelder rechtfertigt). Ich wünsche mir, dass ich so lange durchhalte, wie es nötig sein wird und dass sich mein Zustand nicht weiter verschlechtert.

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