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Interview mit Birte Viermann zum Buch "Liebe Silja,..."

"Silja ist ein lebensfroher Mensch, der eine ganz eigene Art hat, das Leben magisch zu machen. Sie hat wunderbare Freunde, Erfolg im Job und vielfältige Interessen. Dann kommt ME/CFS und sie muss auf all das Stück für Stück verzichten, bis sie schließlich entscheidet, dass der heilsamste nächste Schritt ist, ihr Leben zu beenden."

Birte Viermann, Siljas Schwester, hat ein Buch geschrieben. Über Siljas Leidensweg mit ME/CFS, den Umgang der Familie damit und über Siljas Entscheidung der Freitodbegleitung.


→ Mehr dazu hier.


Liebe Birte, stelle dich und deine Schwester doch bitte kurz vor.


Ich bin Birte Viermann, 48, Diplompsychologin und Coach für Körperarbeit. Mein größter Antrieb im Leben sind wahrscheinlich Lernen und die Suche nach Genuß. Ich liebe es, Zeit mit Freunden zu verbringen, in der Natur zu sein und mich mit Sprachen und Literatur zu beschäftigen. 


Meine Schwester war Silja Viermann, geboren 1978. Wir hatten den gleichen Beruf. Neben der Arbeit mit Menschen hat Silja Berlin geliebt, Musik, Bewegung und Reisen genossen und tolle Freunde gehabt. Sie hatte eine sehr originelle und inspirierende Art, die Welt zu sehen und einen coolen Sinn für Humor.


Silja ist wahrscheinlich schon knapp zehn Jahre vor ihrem Tod krank geworden (sie starb im Juni 2022 mit 43 Jahren). Bänder- und Sehnenrisse, häufige Infekte, Schmerzen des Bewegungsapparats. Circa sieben Jahre vor ihrem Tod hat sie die Diagnose ME/CFS bekommen. Silja hatte keine klare virale Vorgeschichte, MCAS und POTS waren Teil ihrer Symtomatik genauso wie Migränen, Tinnitus, extreme Reizempfindlichkeit und anderes. Silja hat im Laufe ihrer Erkrankung unheimlich viele Dinge probiert – Diäten, Körperarbeit, Psychotherapie, verschiedene Medikamente etc. - , es hat aber nichts geholfen. Über die letzten Jahre ist sie in die Hausgebundenheit, dann in die Bettlägrigkeit gerutscht. In ihren letzten Monaten konnte Silja noch knapp 5 Minuten am Tag kommunizieren, meist über Kurznachrichten am Telefon. Sie vertrug 2-10 Lebensmittel und lag den ganzen Tag über mit Schlafmaske und Noise-Canceling-Kopfhörern im abgedunkelten Raum. Sie konnte nur noch flüstern, konnte keine Gesellschaft haben, nicht lesen, nicht auf Bildschirme schauen. In dieser Situation hat sie sich entschieden, nicht mehr leben zu wollen. 


Silja hat ihr Leben bis zuletzt geliebt, das hat sie selbst noch in der Rede betont, die sie für ihre eigene Beerdigung geschrieben hat.


Gleichzeitig war ihr Sterbewunsch wirklich dringlich, weil sie spürte, dass sie diese Lebenseinstellung nicht mehr lange würde halten können. 


Sie hat immer wieder sehr darunter gelitten, sich von einem Lebensbereich nach dem anderen verabschieden zu müssen und fand es furchtbar, dass ihr ME/CFS wirklich jede Art von Genuß genommen hat. 


Was war in all der Zeit der Vorbereitung auf Siljas Tod, aber auch in den Jahren zuvor während ihrer Krankheit, für dich das Schwierigste?


In der Krankheitszeit war vielleicht das Schwierigste, wirklich zu verstehen, wie schlecht es Silja ging. Ich habe oft erst im Nachhinein gemerkt, dass sie sich sehr zusammengenommen hat und eigentlich schon viel schlechter dran war, als ich kapiert habe. Dadurch haben wir vielleicht manches zu spät angestoßen, und Silja hat darunter gelitten.


Sie immer leiden zu sehen, war auch superschwer. Dazusein, und nichts tun zu können. Sie nicht mit Aufmunterungen oder Vorschlägen zu nerven, ihr Leid nicht irgendwie zu minimieren, und trotzdem damit zurechtzukommen. 


Es war schwierig und wichtig, und ist mir insgesamt gelungen, mein Leben auch weiterzuleben und Platz für das Schöne im Leben zu lassen. 


In der Vorbereitung auf den Tod fand ich es am schwierigsten, für mich mit dem Thema Tod zurechtzukommen. Ich konnte mich nicht einfach nur auf Silja konzentrieren, sondern musste auch mit meiner eigenen Angst vor dem Tod umgehen und das hatte ich vorher lange vermieden. 


Es war auch schwer, mit diesem unfassbaren, großen Gedanken – Silja wird sterben, zu einem definierten Zeitpunkt – zu leben und den normalen Alltag weiterzumachen. Manchmal hat mir das Gefühl fast die Luft zum Atmen genommen. 


Und das einfachste?


Siljas Sterbewunsch zu verstehen. 

Bei ihr zu sein.

Die Dinge zu tun, die sie im jeweiligen Moment brauchte. 


Ich bin immer gern mit Silja zusammen gewesen (wir hatten einfach Glück miteinander und mit unserer Beziehung als Schwestern). Das hat sich durch die Krankheit nicht geändert, und es war immer schön, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, wenn ich das konnte. 


Natürlich war ich auch mal müde oder genervt, aber das war selten und ich war vielleicht auch selten genug bei ihr, um mich gut erholen zu können. 


Was hat dir die Kraft gegeben, all das durchzustehen? Deine eigenen Sorgen und Ängste nicht über die deiner Schwester zu stellen und gleichzeitig auch immer für die Familie da zu sein?


Erstens, ganz einfach: Liebe. Ich liebe Silja, und es war mir ein Bedürfnis, ihr beizustehen, so gut ich konnte. Es war einfacher, dazusein, als nicht dazusein. Das hat aber auch damit zu tun, wie Silja war, ich glaube nicht, dass mir das für viele andere Menschen so leicht gefallen wäre, und ich glaube auch nicht, dass man das machen muss oder sollte. Es war für mich in diesem Fall einfach richtig.


Dann sicher auch die Tatsache, dass ich mein Leben auch als ein Lernen und Arbeiten an mir begreife. Ich lehre andere als Coach den Umgang mit wichtigen Lebenssituationen, habe in dem Bereich aber auch dreißig Jahre Selbsterfahrung hinter mir. Das hat sehr geholfen, z. B. meine Gefühle verarbeiten zu können und sie nicht auf ungute Weise auszudrücken. Ich benutze Körperarbeit, Meditation und andere Werkzeuge, um nicht von Stress und Panik weggetragen zu werden – und in Siljas letzten Monaten habe ich wirklich jedes bißchen Erfahrung gebraucht, das ich da habe.


Teil davon war das Schreiben des Buchs. Ich habe angefangen, Silja Briefe zu schreiben, weil ich so ein Bedürfnis hatte, ihr Dinge zu erzählen, und sie konnte das nicht mehr aufnehmen. Wenn ich schreibe, ändert sich mein Zustand nach einiger Zeit, es geht mir dann eigentlich immer besser. Und nach einer Weile habe ich nicht mehr nur an Silja geschrieben, sondern auch an mich selbst und habe durch das Schreiben geschaut, was ich brauche und wie ich die Situation am besten bewältige.


Und schließlich, mindestens genauso wichtig: Unterstützung durch Freunde und Familie. 


Ich bin zwar viel für die anderen dagewesen, aber die auch für mich. Silja, Lluis, meine Eltern – alle haben mir auf ihre Weise ganz viel gegeben und mich stabilisiert. Und ich habe von Anfang an möglichst viele Menschen einbezogen, die für mich wichtig waren und die mich unterstützen konnten, mein Partner, meine Freund*innen, Fachleute für irgendwas, die ich um Hilfe gebeten habe. Ich habe immer sehr bewusst geschaut, was ich gebraucht habe. Mal war Zeit für therapeutische Interventionen, mal für Ausruhen, mal für Welpenvideos und Small Talk über andere Dinge. Und ich hatte für alles liebe Menschen, die mich begleitet haben. Dafür bin ich sehr dankbar. 


Die wichtigste Frage zum Schluss: Wie geht es dir heute? Hast du dich durch diesen Schicksalschlag verändert, was nimmst du dir für die Zukunft mit und welche Pläne hast du?


Allgemein würde ich sagen, es geht mir gut. Silja ist fast jeden Tag irgendwie in meinem Leben präsent und oft ist das eher mit Dankbarkeit als mit Trauer verbunden. Trotzdem erwischt es mich auch alle paar Tage nochmal und ich weine, manchmal in ganz unvorhersehbaren Momenten. Ich habe aber allgemein das Gefühl, in ruhigerem Fahrwasser unterwegs zu sein als z. B. vor einem Jahr, als alles viel frischer war. 


Ich fühle mich auf jeden Fall verändert durch Siljas Krankheit und Tod.


Einerseits finde ich mich stärker und stabiler, ich habe meinen Frieden mit dem Tod und kann mit Themen von Krankheit und Verlust leichter umgehen. Es gibt eine Art Selbstverständlichkeit, ein Wissen, dass das Leben endlich ist, das ich nicht mehr vermeide. Das macht mich besser im Umgang mit allen möglichen Krisen, aber auch berührbarer für die schönen Dinge. 


Wie im Buch z. T. beschrieben musste ich mich durch Siljas Tod auch nochmal mit anderen Verlusten in meinem Leben beschäftigen, und ich habe den Eindruck, dem langsam echt auf den Grund gegangen zu sein. Ich mache für mich Therapie, und setze mich mit alter und neuer Einsamkeit auseinander, was oft schmerzhaft ist, mir aber auch das Gefühl gibt, dass Schmerz und Traurigkeit endlich sind und das Grundgefühl im Leben vielleicht ganz langsam leichter wird. Das finde ich total ermutigend. 


Ich finde, dass sich ganz viele Beziehungen – meine, und auch die zwischen anderen Menschen in Siljas Umfeld total zum Positiven verändert haben. Sie hatte sich ja gewünscht, ein Bindeglied zu sein und ein Netz aus Liebe zu hinterlassen, das uns hält. Das sehe ich überall und genieße es total.


Überhaupt ist mir noch viel mehr klargeworden, wie wichtig mir andere Menschen in meinem Leben sind. Durch Siljas Tod ist mir aufgegangen, dass ich die letzte in unserer Familie bin und irgendwann sehr allein sein könnte, wenn ich nicht gezielt etwas anderes aufbaue. Da ich keine Kinder habe, und auch sonst außer meine Eltern keine nahen Verwandten, muss ich mir meine Familie selbst schaffen und denke auch viel darüber nach, wie ich im Alter leben möchte (mit lieben Menschen, möglichst an einem schönen Ort, gern möglichst lange selbstbestimmt…)


Dieses Thema ist gerade sehr präsent, und gleichzeitig ist mir klar, dass ich das nicht innerhalb kurzer Zeit “lösen” kann. Im Moment beschränke ich mich darauf, mir über meine Träume klarzuwerden und mich mit anderen dazu auszutauschen. 


In der näheren Zukunft, den nächsten zwei Jahren vielleicht, möchte ich viel mit “Liebe Silja” machen und hoffentlich an entscheidenden Stellen ein paar Veränderungen anstoßen. Das füllt gerade meine freie Zeit und ich freue mich sehr darüber. 


Mein Wunsch wäre, dass sich bald richtig was bewegt und ich dann in ein paar Jahren meinen Fokus auf andere Dinge richten kann: Einen schöne Ort zum Leben finden, all das integrieren, was ich gerade auch als Therapeutin über Leben, Regulation und Krisen lerne, vielleicht nochmal ein ganz anderes Buch schreiben… Mal sehen. 


Auf jeden Fall folge ich ein bißchen dem Rat, den Silja ihren Lieben in ihrem letzten Brief gab: Ich kümmere mich um die Trauer, wenn sie da ist, und wechsele das damit ab, das Leben zu genießen. Ich hoffe, das auch in Zukunft so halten zu können. 

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